Abstraktion und Wirklichkeit

Marianne Burki, Direktorin Kunsthaus, Langenthal

Mehrere gläserne Schiebetüren  öffnen und schliessen sich. Wie ein Sog führen sie den Blick in die Tiefe einer unsinnigen Architektur. Öffnen und schliessen, einatmen und ausatmen, ein sanfter Rhythmus. Subtil verändern sich die Transparenzen der einzelnen  Türen, das Glas erscheint Grünblau, die Farbigkeit wird intensiver und schwächer und steigert die Kadenz der Bewegung. Die leicht schleifenden Geräusche unterstützen die Konzentration auf die Bewegung im Raum.

Hohe weisse Türrahmen stehen in der Landschaft. Die Falttüren bewegen sich in unterschiedlichen Abständen und öffnen abwechslungsweise den Zutritt zur freien Natur. Eintreten und Hinausgehen sind dasselbe, der Aufenthalt in der Architektur wird von der sich wieder schliessenden Türe unweigerlich beendet.

Ihrer Funktion enthobene Architekturelemente sind auch die zehn Barrieren auf der Bedachung der Autobahn bei Sion , die sich nach einer bestimmten Choreografie öffnen und schliessen, sich von ihrer schwerwiegenden Aufgabe befreien und eine Art Ballett veranstalten. In der Nacht löst sich gar der konstruktive Zusammenhalt auf, rote Lichter scheinen sich frei im Dunkel zu bewegen. Hier wird der Raum praktisch aufgelöst und die Wahrnehmung fügt sich der Bewegung der rot leuchtenden Farbtupfer.

Riesige Fenster stehen als leicht bewegte, hier und dort sich neigende Flächen nebeneinander in einer Berglandschaft. Die starke Spiegelung lässt das Dahinterliegende gerade noch erkennen, stärker ist jedoch, was sich hinter unserem Rücken abspielt. Diese gleichzeitige Präsenz von Vorne und Hinten macht die Begrenzung unseres Blickfeldes deutlich, aber auch die Wirkung des für uns momentan Unsichtbaren. Das Fenster als Durchblick löst sein Versprechen nicht ein und übertrifft gleichzeitig unsere Erwartungen.

In Anne Blanchets Installationen löst sich die ins Absurde getriebene Architektur auf, die Gedanken werden auf die Erforschung des Raumes gelenkt und die diese begleitenden Empfindungen. Im Alltag verbinden und trennen Türen, Fenster und Barrieren mit grosser Selbstverständlichkeit Innen und Aussen, erlaubtes und verbotenes Terrain, sie unterliegen einem steten Wechsel von Empfangen, Abweisen, Freilassen und Einschliessen. In den Installationen genügen sie sich selbst. Der Moment des Erstaunens oder auch der Belustigung, welcher beim Wegfallen des funktionalen Kontextes entsteht, ist nur von kurzer Dauer. Der neue Fokus ermöglicht einen anderen Blick auf das Alltägliche. Architektonische Grundstrukturen werden zu geometrischen Formen, zu Linien, funktionale Bewegungen werden zu poetischen sich wiederholenden Abläufen.

Aus einer ganz anderen Welt scheint die Videoarbeit Coup de Foudre von 2002 zu kommen. Über einer im Dunkeln kaum sichtbaren glänzenden Metallplatte bewegt sich ein Pendel aus Metall. Die unter starke elektrische Spannung gesetzten Teile entladen sich in unzähligen feinen Lichtstrahlen. Sie durchbrechen das Dunkel und bewegen sich mit wechselnder Intensität immer um dieselbe Vertikale. Eine Art Pulsieren und Atmen, eine sich nicht erschöpfende, auch innerlich wirkende Bewegung. Dieser Schönheit und Stärke des tänzerischen Wechsels des Strahlenbündels setzt sich die reale Gefahr entgegen. Die Spannung ist beträchtlich und die ihr innewohnende zerstörerische Kraft ist deutlich spürbar und hörbar. Hier liegt denn auch ein Bezug zu den übrigen Arbeiten, auch diese werden von einer latenten Gefahr begleitet: eingeschlossen werden, Stromschlag, Zugunglück.

Licht fällt auf die matte Oberfläche von Plexiglas und dringt in sie ein. Sanfteste Abstufungen entstehen entlang der präzisen Einschnitte. Die Schattierungen und leisen Farbklänge entstehen entlang der Einschnitte, welche je nach Lichteinfall als Relief erscheinen. Es entstehen Wölbungen, erhabene Kanten und Räume, die sich mit der Veränderung  der Beleuchtung wieder wandeln und ins Gegenteil bewegen können. Dabei werden die klaren Linien, die an sich keinen Bezug zur Konstruktion eines Gebäudes haben, unwillkürlich zu Architektur, zu einem Innenraum mit Türe, zu einer hohen Decke; in diesem Sinne sind die Light drawings eine Umkehrung der übrigen Werke. Im Zentrum steht die Erforschung eines einfachen, räumlichen Phänomens, eines Naturereignisses - die Erforschung des Lichts und seiner raumbildenden Möglichkeiten. Mit der Modellierung durch das Licht geraten die Werke in Bewegung, können aber auch geradezu ausgelöscht werden.

Diese Plexigläser mit ihrer fast samtig mattierten Oberfläche können nur mittels hochentwickelten, maschinengesteuerten Techniken realisiert werden. Viel Technik steht auch hinter beweglichen Türen und Schranken. Dieser Aspekt tritt jedoch in den Hintergrund, er geht vergessen, er ist Mittel zum Zweck. In Anne Blanchets Arbeiten erfahren einfache Phänomene der Architektur eine Umdeutung. Der Entfaltung ihres poetischen Ausdrucks liegt eine Auseinandersetzung mit elementaren Kräften und Bewegungen zugrunde. Leise Nebentöne begleiten diese Horizontalen und Vertikalen, die mit ihrer nun zufällig erscheinenden Funktion den Blick ruhen lassen und die Unterschiede zwischen Abstraktion und Wirklichkeit, zwischen Natur und Technik auflösen.